„Backskamerad vorm Bordkamerad, Bordkamerad vorm Fremden, Fremder vorm Hund“.
Julian Stockwin 'Kydd, zur Flotte gepreßt'
2001 erschien dieser Erstling eines literarisch unbedarften neuen Autors marinehistorischer Romane. Julian Stockwin, 1944 in der Grafschaft Hampshire geboren, wurde mit 14. Jahren auf der Seemannschaftsschule der Indefatigablegeschickt. Mit 15 Mitglied in der Royal Navy, später Mitglied in der Royal Australien Navy. Seine Seefahrten führten ihn um den Globus. Als Teilnehmer im Vietnam-Krieg als Teil einer Flugzeugträgerflottille, verließ er danach den aktiven Dienst. Mit Orden dekoriert lebte er zunächst als Reservist in Hongkong, heute in Guildford, südlich von London.
Thomas Kydd wird von einer Preßtrupp aus seiner heimischen Komfortzone herausgerissen und an Bord des 98 Kanonen bestückten LinienschiffesDuke Williamverschleppt. Die Royal Navy braucht Matrosen und holt sie sich, hier einen echten Landlubber, eine Perücken- und Hutmacher. Tief verstört wird er an Bord einer Backschaft zugeordnet und in seine Musterrolle eingewiesen. Decksdienst, Gefechtsbereitschaft, Segelaufgaben. Man verlacht ihn ob seines Berufes und er muss alle Demütigungen ertragen, die ein Luvschieter aushalten kann. Am Spill darf er den Anker eindrehen. Das ist anstrengend und fordert die Muskulatur, die Kydd noch nicht hat. Jo Bowyer ist eine erfahrene Teerjacke, der Tom unter seinen Schutz stellt. Er führt ihn in alle überlebenswichtigen Tätigkeiten und Handlungsabläufe ein, schafft es sogar, den unerfahrenen Kydd mit in die Masten und Rahen zu nehmen. Kydd erweist sich als schnell Lernender. Doch völlig überraschend stürzt der erfahrene Freund beim Segelmanöver ab und stirbt. Kydd ist nicht lange alleine, ein schweigsamer Matrose namens Renzi sucht seine Kontakt auf der Mars-Plattform. Der Einzelgänger outet sich als an Freundschaft interessierter Matrose. Vermutlich adliger oder großbürgerlicher Herkunft gewinnt Renzi eine Flasche Wein beim erfolgreichen Übungsfechten mit einem Leutnant. Renzi erstrebt Abbitte ob seines korrupten Vaters, der seine Lehensleute unterjocht und ausnutzt. Dafür hat sich Renzi eine selbst erwählte Strafe ausgesucht – 5 Jahre in der Navy. Kydd konnte sehr gut Muskete-Schießen. An Bord wurde trainiert.
Es kommt zu einer Seeschlacht mit französischen Linienschiffe, die einen hohen Blutzoll kostet und unentschieden endet. Die französischen Schiffe können Brest sicher erreichen, das war ihr Ziel.
Das große, marode Linienschiff hat einen inkompetenten Kapitän, der jedoch auch noch Reste von menschlicher Würde aufbringen kann. Im Gegensatz dazu der brutale und schindende 1. Offizier Tyrell. Der lässt gerne auspeitschen. Dazu haben wir an Bord noch einen Fähnrich von fast 30 Jahren, der wohl kaum noch die Leutnantsprüfung bestehen wird, dafür aber Matrosen und Untergebene grundlos schindet und daraus Selbstwert ableitet. Ein ganz mieser Typ, der in vielen Romanen über die Marine auf See auftaucht. Dieser miese Typ setzt den Impuls, der die folgende Handlung bestimmt. Er lässt Kydd, der nach 6 Monaten zu einem gutem Matrosen herangereift ist, aus nichtigen Gründen auspeitschen. Der Rücken verheilt, der seelische Schmerz nicht. Kydd und Renzi nutzen die Chance der Flucht, als eine Brigg Pulver und Kugeln übergibt, zur Flucht. Die gelingt. Die Brigg wird von Franzosen gekapert, aber von Kydd und Renzi zurückerobert. Sie begegnen erneut dem britischen Geschwader, werden wieder an Bord genommen, aber dann der Fregatte Artemisübergeben, um einen Neuanfang zu ermöglichen. Das war ein Höllenritt: Ausgepeitscht – Desertieren und Pläne für die Flucht vor der Navy – dann das eigene Leben retten und den Weg zurück zur Flotte als richtig einzuschätzen. Überleben, der Navy treu bleiben. Wow!
Soweit der Plot in Kürze.
Der Roman wird zurecht gelobt dafür, dass wir hier erstmalig einen 342 Seiten Text lesen können, der ausschließlich die Perspektive eines/mehrerer einfacher Matrosen auf einem großen Linienschiff lenkt. Aus dieser bisher nie erlebten Perspektive sehen wir ein rottes Holzschiff mit vielen sehr einfachen Matrosen und Abläufen, die die einfachen Matrosen nur ansatzweise verstehen. Brauchen sie ja auch nicht – sie müssen ja nur gehorchen. Die Befehlskette der Maaten, Bootsmänner, Fähnriche und Offiziere ist für diese Menschen eine Welt jenseits ihrer eigenen. Was von dort kommt, ist Gott, der Kapitän, oder grobe Ungerechtigkeit in Verkörperung des 1. Offiziers und seines Offizierkorps.
Stockwin hat es gut sprachlich eingefangen (als wäre er / als wären wir dabei gewesen!). „Deine Zunge liegt wohl beigedreht unterm Sturmklüver, was?“
„Mehr als 'n Dutzend hätte Pat nie nich' kriegen dürfen“.
Stockwin will uns über seine Figur Renzi ein wenig anregen über die zeitgenössischen geisteswissenschaftliche Zusammenhänge nachzudenken. Dafür lässt er uns Renzi über Leibnitz und Descartes stolpern.
Exkurs:Gott hat unter allen möglichen Welten die beste geschaffen. Da er allmächtig, allwissend und allgütig ist, musste er das auch. Die in der Welt vorkommenden Übelstehen dem nicht entgegen. Leibniz unterscheidet sie nach drei Typen:
1. Metaphysisches Übel: Das metaphysische Übel bzw. Elend besteht in der Endlichkeit der Welt. Dieses wäre wohl nicht zu vermeiden, wenn Gott eine perfekte Welt schaffen wollte.
2.Physisches Übel Leiden und Schmerzen gehen mit einer gewissen Notwendigkeitaus dem metaphysischen Übel hervor, da geschaffene Wesen zwangsläufig unvollkommen sind.
3. Moralisches ÜbelEin geschaffenes Wesen hat die Möglichkeit zu fehlen bzw. theologisch formuliert zu sündigen, da Gott ihm die Gabe der Freiheitverliehen hat.Nach Leibniz gibt es keinen Widerspruch zwischen Determinismus und Freiheit.
Obwohl mit der Wahl der Welt jede Handlung eines Menschen zum Beispiel vollständig unverrückbar festliegt, so ist die Tatsache, dass sich ein Mensch in einer Situation so und nicht anders verhält, völlig frei (im Sinne von unvorhersehbar). Dass sich ein Mensch so verhält (so verhalten würde), ist gerade der Grund, warum die Welt gewählt wurde. Ein anderes Verhalten wäre entweder logisch nicht möglich (nicht kompatibel mit dem Rest der Welt) oder würde eine moralisch schlechtere Welt bedingen.
Das sind überlegte Hinweise.
Und die Cromlechs, die Dolmen der Bretagne, Hünengräber, zeigen, dass Stockwin sich in die Historie hineingelesen hat und Zusammenhänge sehen will und literarisch nutzt. Das ist ehrenwert.
Wir lesen einen ambitionierten Erstling eines Autors, der noch 15 Bände folgen lassen wird. Dieser erste ist mehr als gelungen, wir können ihn sogar feiern, weil hier ein einfacher Matrose den Fokus bestimmt. Das ist für das Genre neu und spannend. Ob die Darstellung des Trepanierens eines Schädels als Hommage an PoB aufgefasst werden will, oder für die eigentlich flüssig und spannend erzählte Geschichte notwendig war – kann der Leser selbst entscheiden.
Das Lesevergnügen lässt gerne zum 2. Band greifen.