Die wundersame Welt der Fauna und Flora des Dr. Stephen Maturin

  • Die wundersame Welt der Fauna und Flora des Dr. Stephen Maturin

    oder die 'Vermählung zweier weit entfernter Welten'

    zu Inhalten und Gestaltungsmotiven in P.O'Brians Romanserie


    In Geheimauftrag Mauritius, dem 4. Band von P. O'Brians marinehistorischen Serie findet sich folgender Passus:

    "...Auch war er auf drei Viertel einer weiblichen Tüpfelhyäne gestoßen und hatte das restliche Viertel, noch mit dem gemein grinsenden Kopf daran, nicht weit entfernt gefunden, wo es einer seiner alten Freunde, ein Bartgeier, gerade zu verschlingen suchte. Stephen dünkte dies eine hübsche Synthese aus Vergangenheit und Gegenwart, eine Vermählung zweier weit entfernter Welten..." (POB, Ullstein 4/2006, S.92).


    Patrick O'Brian veröffentlichte diesen Mehrteiler von 1970 bis 2004, sein Tod beendete vor 17 Jahren die Fertigstellung seines Opus magnum.


    Skurril, besonders, verschroben und in jedem Falle schmunzelnd mutet es an, dass uns Patrick O'Brian in seinem einundzwanzigteiligen marinehistorischen Vielteiler mit seinen zwei brüderlichen, doch so unterschiedlichen Männern Jack Aubrey und Stephen Maturin bekannt macht. Für jeden von beiden hat er ein lachendes, ein lächelndes Auge übrig. Beide leben oft eng zusammen, und wir lernen sie kennen zu Beginn des 19. Jahrhunderts.


    Für uns heute wahrlich eine wohl sehr entfernte Welt. Setzte man sich in weniger weit entfernten Zeiten in den 1970er Jahren in den Geisteswissenschaften u.a. gerne mit Polaritäten, Gegensätzen oder dialektischen Fragen auseinander (In jedem Ying ist etwas Yang!), so ist man heute in den 2020er gerne in verschiedenen parallelen Welten unterwegs, die auch nicht immer zusammenhängend gedacht werden können, müssen, dürfen. Ein Hoch den konstruktivistischen Ansätzen, die jedem/jeder von uns heute unseren maximal individualistischen Blick auf die vielen Welten erlauben und diese konstruieren.


    Aber zurück zu Stephen und Jack. Allen Fans der Serie an Herz gewachsen, allen eher distanzierteren Genießern nicht weniger positiv in Erinnerung und denjenigen, die O'Brians Reihe wenig oder gar nicht zusagt, die sollten jetzt hier sowieso nicht weiterlesen; Stephen und Jack verkörpern zwei Welten in der einen Welt des beginnenden 19 Jahrhunderts. Das hat sich O'Brian fein ausgedacht, denn in Gegensätzen zeigen sich die Eigenheiten der jeweiligen Pole besonders deutlich.

    So weit - so gut!


    Wir haben einerseits vordergründig einen promovierten Naturwissenschaftler, einen Humanmediziner, einen unsportlichen, eher asketischen, reflektierenden, forschenden, sezierenden, sammelnden, weltfremden Stephen, der hintergründig seine Spionagetätigkeit, und Mehrsprachigkeit und sein z.T. lexikalisches Wissen geschickt oft perfekt tarnt. Und anderseits ist uns Jack vertraut, ein ambitionierter Marineoffizier, der taten- und getränkedurstig keine Mahlzeit und kein Gefecht auslässt, der einen Kanonen- und Breitseiten-Fetisch frönt, der sich mit keiner Bettkante oder platonischer Liebe zufrieden gibt und der Pflicht für seinen König sein Leben unterordnet. O'Brian kreiert ein gegensätzliches 'verbrüdertes' Freundespaar, der eine eher apollinisch, der andere eher dionysisch. Nietzsche hätte seine Freude gehabt. Hesse auch. Wir haben sie - die Freude mit den Freunden.

    So weit - so gut!


    Mit einem mutigen Helden kommen viele marinehistorischen Serien daher, das ist wahrlich nicht neu, in den 60er, 70er, 80er und auch 90er Jahre erscheinen viele maritime Reihen in der Nachfolge von C.S. Forester 'Hornblower'. Und auch das Motiv des etwas 'schusseligen' Partners, der durch seine besonders hervorgehobene Andersartigkeit die Güte des Helden noch poliert, ist keine neue Idee. Man denke nur an den botanisierenden Schmetterlingsjäger in den Karl May Verfilmungen um Winnetou etc. oder die beknackten Gegenspieler von Pippi Langstrumpf oder um im Genre zu bleiben die oft trotteligen Darstellungen von französischen Soldaten bei Pope.

    O'Brian gestaltet noch etwas völlig anderes, etwas so wohl eher selten dagewesenes. Seinen Helden Aubrey konterkariert er mit Maturin, der ihm in vielen Facetten nicht nur gleichgestellt, sondern überlegen ist. Seine Hintergründigkeit wird durch seine tolpatschige Außenwirkung erheblich verschleiert. Er ist ein tiefsinniger, zweifelnder, reflektierender Intellektueller, der in verantwortlicher Beratertätigkeit für die Krone oft erfolgreich spioniert und die politischen Geschicke und Strategien maßgeblich beeinflusst. Jack ist dann oft die Hand und Faust, der die Ränke in Gegenwart und Realpolitik verwandelt.

    Dass es immer wieder Konflikte zwischen beiden gibt, liegt auf der Hand. Was eben der Dienst, die Pflicht erfordert - was eben die Spionage, die Wissenschaft, die Forschung oder das Zwischenmenschliche erfordert. Und auch Schnittmengen sind geschickt gestaltet: Liebesbeziehungen zu verwandten Frauen, gemeinsam erlebte Abenteuer (Leben), Sternenkunde, auch vielleicht sogar letztendlich Moralität (?). In jedem Fall aber die Liebe und Leidenschaft zur und an Musik, am gemeinsamen Musizieren, nicht immer brillant, aber immer versöhnend und schwelgend.

    Bei der Darstellung der handfesten Handlungen, der alle LeserInnen liebenden Action um den Lucky Jack dominieren gerne auktoriale Erzählstränge und ein paar Briefe im Stil eines ehrlichen Seemanns in ungeübter Diktion (klassischer Postkartenstil!). Stephens Gedankenströme hingegen kommen manchmal unvermittelt montiert, mal in Tagebuchaufzeichnung oder Briefen daher. Die wunderbar gestalteten Dialoge machen die oft krassen Gegensätze beider Charaktere deutlich, ein funkensprühendes Feuerwerk hervorragend übersetzter Rhetorik. (Auch der Film 'Master und Commander' (2003) ist diesem Erzählen treu!).

    So weit - so gut!


    Es kommt noch etwas! O'Brian bedient sich noch eines inhaltlichen Gestaltungsmotivs, das wohl wirklich bisher nicht in dieser Form vorzufinden war. Es ist Stephens Vorliebe für die Fauna und Flora dieser einen Welt am Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Leidenschaft für alles, was kriecht und fleucht und wächst und schwimmt und krabbelt und flappt und brütet und eierlegt, verspeist, reißt, kreischt und spinnt und brüllt und maunzt und furzt und klettert und flötet...

    Die Welt der beiden Helden ist noch nicht in Ansätzen erschlossen, erforscht oder gar systematisiert. 'Tausend neue Sachen, die gibt es überall zu sehen!" behauptet die Sesamstraße in den 70er Jahren des 20 Jahrhunderts. Das ist wohl sicherlich stimmig für Stephen Maturin.

    Mit einer Tüpfelhyäne und einem Bartgeier im Eingangszitat erwähnt, wird der neugierige Stephen verwöhnt, und wir LeserInnen staunen jederzeit, dass es diese Tiere überhaupt gibt, sofern wir Leser von marinehistorischen Romanen und weniger botanisierende oder zoologisierende Experten sind. Natürlich nehmen wir gerne teil an den besonderen Funden unseres Stephen und freuen uns mit ihm, leiden immer grinsend mit, wenn ihm seine Schätze/Funde wieder abhanden kommen. Genau in dieser naturwissenschaftlichen Detailverliebtheit bezogen auf die Artenvielfalt dieser Welt, die uns Lesern ja eben auch eher unbekannt ist, finden wir diese besondere Gestaltungsmotiv. Es brüllen die Kanonen auf See, Matrosen, Soldaten und Zivilisten sterben in den kriegerischen Auseinandersetzungen, die wunderbaren Segelschiffe versenken oder zerstückeln sich und ein forschender Gutmensch will der Menschheit/der Wissenschaft die Schönheiten und Besonderheiten der Schöpfung/Natur näher bringen.

    Hier Action mit 24-Pfündern - dort Käfer und Orchideen. Hier der zerstörende, politische Mensch - dort die unendlich vielfältige unentdeckte Natur. Doch auch dieser Gegensatz ist hinreichend bekannt.

    Aber O'Brian macht es für uns Leser elegant und tiefenwirksam. Er polarisiert nicht offen oder polemisiert oder politisiert und bewertet auch kaum. Nein, er konfrontiert uns Leser mit eben dieser wunderbaren natürlichen Vielfalt, die er zumeist in einem vorzüglichen Zusammenhang einführt oder sie mit den Personenhandlung oder dem erzählten Kontext ungewöhnlich verschweißt. Dazu benennt er sie gerne botanisch und zoologisch korrekt (auch mit den lateinischen Gattungs- und Über- oder Untergattungsbegriffen). Das ist fast immer überraschend und in diesem präzisen Überfall von eher seltenen Planzen und Tieren auf die Personenhandlungen steckt eine wunderbare, feine, lustvolle Komik. Tüpfelhyäne und Bartgeier eben!

    Wie herrlich überspannend (eigentlich zynisch) ist es dann, wenn aus den besonderen zoologischen Kuriositäten ungewöhnlich leckere Menü-Gänge der Offiziersmesse kredenzt werden. Als Beispiel kann ein Festmenü zu Ehren von Jack dienen: "Eine Woche später gab auch der Gouverneur der Kapkolonie ein Festessen zu Ehren Jack Aubreys. Bei ihm wurde Wild aufgetischt: Buntbock, Springbock, Steinbock, Klippspringer (!), Hartebeest (?), Weißschwanz-Gnu (!), aber nicht der kleinste Hummer."(Bd. 4, S.175).


    Es macht in diesem Zusammenhang besondere Freude einmal zusammenzustellen, wer und was einen einzelnen Roman der Reihe bevölkert und die Romanhandlung der Personen garniert. Hierzu habe den 3. Roman 'Duell vor Sumatra' von 1973 ausgewählt.

    Gerne begegnen wir Maturin im Konferenzraum der Entomologischen Gesellschaft. Über eine unbekannte Käferart, 1799 am Ufer von Pringeltjuxta-Mare entdeckt, soll ein Pastor referieren. Stattdessen referiert er über die Überwinterung der Schwalben in kornischen Zinnminen. Mehr Interesse erweckt jedoch ein Hirschkäferexperte (Ullstein, Berlin 4/2007; S.25f). Mit den 'Fährmanns', den aus altem Zwieback kriechenden Maden, wollen wir uns hier nicht aufhalten (S.44). Maturins Ratten fressen nur die besten Kekse, etwas angeweicht in zerlassener Butter, weil er sie für ein Knochenexperiment benötigt (S.123). Die fetten 'Müller' des Fähnrichslogis fressen nur Korn- und Erbsen. Die Offiziersanwärter vergreifen sich an Stephens Ratten und verspeisen diese. Das hat natürlich Konsequenzen. Schläge und Tränen. Für eine kurze Zeit strandet Stephen in seinem Paradies, einer verlassenen Vogelinsel, auf der er Schiffbruch erleidet, das Leiden aber darin besteht, dass er Aug in Aug mit Seevögeln (Tölpeln, Seeschwalben etc.) und Gliederfüßern aller Arten lebt. Gekochte Kacke ist sein einziges Getränk (S.161). Kaum gerettet, stellt er fest, dass sein Rattenexperiment (Farbstoff in den Knochen) zerstört wurde. Er ist geradezu erbost: "Es ist ja nicht das erste Mal, daß mir so übel mitgespielt wird: eine Apisviper bei Fuengirola; drei Mäuse im Löwengolf; und jetzt die Ratten..." (S.165). Seit Brasilien fährt auch ein Dreizehen-Faultier mit auf der Surprise, das gerne herumhängt und schläft, z.B. an einer dicken Trosse, die durch die Kajüte gespannt wurde (S.175). Nackt sitzt Stephen auf den Großrüsten und versucht eine Seeschlange mit einem Sacknetz zu fangen (S.220 f.). Bis er sie fängt, wird er beinahe von Wasserbüffeln auf einem Marktplatz zertrampelt (S.225). Beim Knochensammeln die Geier beobachten und die gelbschnäblige Pharao-Henne (S.229). In Indien reist man mit 30 Elefanten. Eine Python verschlingt ein Reh (S.262). Ob der Herr Norton ein Ornithologe sei, verneint Diana. "Nein,...er interessiert sich für Vögel". Objekt seines Interesses waren die Sandhühner. Wieder an Bord sitzt Stephen auf dem Ankerspill, "...aß eine Mangofrucht und beobachtete den spielenden Mungo, der sein Taschentuch in die Luft warf, es wieder auffing und offenbar zu Tode quälen wollte". (S.299f). Ein Paradiesvogel-Hahn mit prächtigem Federkleid verführt die Freunde zu einer köstlichen Erörterung über sekundäre Geschlechtsmerkmale (S.304). Flughunde mit eineinhalb Metern Spannweite (S.318). Die Testudo aubreii ist dann eine 1t schwere, monströse Landschildkröte, die Stephen mit Jacks Namen tauft (Das gibt es heute auch noch und gar nicht so selten! (z.B. Bursina borisbeckeri). Was für eine schöne Hommage an seinen Freund! (S.428).

    Der geneigte (Wieder-)Leser wird sich sicherlich an die eine oder andere Szene erinnern und erfreuen. Es ist mehr als reizvoll diesem dosierten und gekonnten Slapstick zu folgen. Er karamellisiert den auch immer bunten und vielseitigen und vielschichtigen Handlungsverlauf. Das macht einfach sehr gute Laune und provoziert zum Szenenapplaus. Das schmeckt süß und verlangt nach mehr. Doch dieses herrlich Süße musst du in allen Bänden herausdestillieren, indem du Patrick O'Brians Kunstfertigkeit in seinen Romanen immer wieder folgen darfst und mit seinen wunderbaren Helden in einer von vielen Welten Freude und Glück empfindest, vielleicht auch an der Vielfältigkeit einer von Vergänglichkeit und Zerstörung bedrohten Natur.

    "Wie die Luft gehört die See als Geburtsrecht allen Menschen.“
    (Thomas Jefferson 1743 - 1826)

    Einmal editiert, zuletzt von 1.Lord ()

  • 1.Lord eine sehr gelungene und amüsante Beschreibung aus einer anderen Perspektive. O'Brian "liefert" uns Lesern viel mehr als nur einen marinehistorischen Roman. Es ist auch immer eine Zeitreise und die Romane lassen sich aus verschiedenen Perspektiven genießen.

    ~*~ "Und nun meine Herren, genug der Bücher und Signale." ~*~ Richard Earl Howe, 1. Juni 1794.

  • und ein forschender Gutmensch will der Menschheit/der Wissenschaft die Schönheiten und Besonderheiten der Schöpfung/Natur näher bringen.

    Eine sehr schöne Betrachtung der Reihe. Viele Ansichten teile ich, andere wiederum nicht. Aber das ist kein Problem, weil die Wirkung von Kunst zum Glück immer vollkommen subjektiv ist. Bei der Beschreibung Stephen Maturins bin ich jedoch ein wenig hängen geblieben. Sicher ist Stephen in vielen Belangen ein guter Mensch , aber er ist bei aller Sensibilität auch ein ziemlicher Zyniker.

    Glück hat meistens der Mann, der weiß, wieviel er dem Zufall überlassen darf. (C.S. Forester)

  • Sicher ist Stephen in vielen Belangen ein guter Mensch , aber er ist bei aller Sensibilität auch ein ziemlicher Zyniker.

    Da bin ich bei dir, da gehen wir zusammen. Der Zyniker Maturin ist ein VERLETZTER. Er will sich nicht abfinden mit der andauerenden politischen Situation. Daher: All against Napoleon. Er will sich nicht damit abfinden, dass er sich trotz erlebter Zuneigung durch Diana immer wieder einen Korb von ihr einfängt. Er will doch mehr als ein vertraute Schwester. Immer wieder lässt er sich als Liebender vor den Kopf stoßen. Er will sich nicht damit abfinden, dass der Dienst für den König, dem auch er mit Leib und Spionage vorzüglich dient, mehr Wertigkeit hat als die naturkundliche Erforschung der Welt.

    Als Verletzter will er sich nicht abfinden mit den Gegebenheiten und entwickelt einen bissigen (und oft herrlich komischen) Zynismus.

    Die (höchste) Aufgabe des Menschen könnte nach HEGEL sein, sich mit der Welt zu VERSÖHNEN. Ich sehe Stephen genau immer wieder auf diesem Weg. Deswegen lässt er auch trotz so vieler Enttäuschungen nicht wirklich nach. Wir folgen seiner Versöhnungssuche so gerne über die 20 Bände, auch wissbegierig darauf, ob er diese Aufgabe bewältigt und die Suche erfolgreich verläuft.

    Als Wiederholungsleser wissen wir um seinen einzigartigen Weg, auf dem wir ihn gerne begleiten und sein Ergebnis, das wir ihm gönnen.

    "Wie die Luft gehört die See als Geburtsrecht allen Menschen.“
    (Thomas Jefferson 1743 - 1826)