Pierre Loti - Islandfischer

  • Das Meer, das graue Meer – das große blaue Nichts“


    Pierre Loti 'Islandfischer'


    1886 erscheint der Roman die 'Islandfischer' in der französischen Zeitung Nouvelle Revue. Er wird ein Bestseller des 1850 in Rochefort geborenen Autors Pierre Loti. Loti war ein französischer Marineoffizier und sehr erfolgreicher Schriftsteller des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Als Vertreter des Fin de siècles wird er literarisch dem Exotismus bzw. Orientalismus zugerechnet, was er inhaltlich in seinen Romanen und äußerlich durch zahlreiche Reisen untermauerte. Wie Paul Gauguin zieht es ihn in die Karibik, nach Tahiti, nach Indien und China. Die Menschen sind auf der Suche nach Lebenssinn, sie bereisen die Welt. Stilistisch ist er dem romantischen Impressionismus verpflichtet. Aus heutiger Sicht finden sich antiquierte Bilder und Sätze, die entweder manieriert wirken, oder aber auch als einfach schön gelesen werden können. Obwohl er zu den meistgelesenen Autoren der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert zählte, ist er heute weitgehend vergessen. Etwa 10 Romane wurden ins Deutsche übertragen, wesentliche liegen auch heute neuübersetzt vor, andere sind nur antiquarisch erhältlich. Die vorliegende Ausgabe von dtv ist sehr stimmig von D. Hemjeoltmanns und O. Schulze übersetzt. Ein Nachwort von S. und M. Farin kommentiert den Roman und bettet ihn ein in das Werk des Autors, zeigt aber auch inhaltliche Perspektiven auf.


    Es gilt hier einen Klassiker neu zu entdecken.
    Drei Hochzeiten und zwei tote Bräutigame. Das klingt nach Krimi oder Komödie. Beides sind die 'Islandfischer' eindeutig nicht. Wir haben es mit einer doppelten Tragödie zu tun. Die beiden Freunde Yann und Sylvestre sind beheimatet in Ploubazlanec nahe Paimpol an der rauen bretonischen Küste. Wie ihre Vorfahren sind sie Islandfischer, das sind starke junge Männer, die im Frühling mit einer guten Golelettes (Zweimaster) aufbrechen, um vor Island bei Sturm und Kälte Dorsche zu fangen mit langen Angelleinen. Zurückgekehrt wird im Herbst, um den Fang zu verkaufen und einen strengen Winter mit der eigenen Familie oder einer Familiengründung zu verleben. Während der noch junge Sylvestre hofft, nach seiner Militärzeit die Schwester Yanns heiraten zu dürfen, wähnt sich Yann nur dem Meer verpflichtet. Seine Hochzeiten an Land „dauern nur eine Nacht oder auch nur eine Stunde, es kommt drauf an“. Wir werden Zeugen des Fischfangs vor Island unter härtesten Bedingungen. Die Beschreibung eines heftigen Sturms vor Island sucht in der maritimen Literatur ihresgleichen. Auf sechs Seiten verschlingt dieser Orkan nicht nur das Fischereisegelboot und seine wackere Besatzung, die dem Sturm ein französisches Seemannslied entgegenschmettern, sondern auch der Leser ringt bildlich und emotional ums Überleben. „Festgebunden standen sie beide weiterhin am Ruder in ihren Südwestern, die hart und schillernd waren wie Haifischhaut; sie hatten sie dicht am Hals mit geteerten Bindfäden zugeschnürt, genau wie an den Handgelenken und Knöcheln, damit kein Wasser eindringen konnte. Es lief über sie hinweg, und sie krümmten den Rücken fest, um nicht umgeworfen zu werden. Ihre Gesichtshaut brannte, und alle Augenblicke blieb ihnen der Atem weg. Nach jeder schweren Sturzwelle schauten sie sich an, lächelten über das Salz, das sich in ihren Bärten angesammelt hatte“ (S.61).
    Zurückgekehrt in die Bretagne wird die Fischereiflotte (30 Schiffe) und deren Fänge gebührend gefeiert. Dabei ist auch Gaud, eine sehr hübsche Bretonin, die mit ihrem reichen Vater nach Jahren in Paris zurückgekehrt ist. Mit Yann vertanzt sie eine ganze Nacht in romantischer Harmonie. Züchtig trennt man sich. Den ganzen Winter über beachtet Yann Gaud dann nicht mehr. Das schmerzt das junge Mädchen, sie schmachtet. Sylvestre hingegen wird zum Militärdienst bei der Marine eingezogen und mit Dampfkraft geht es durchs Mittelmeer, den Suez-Kanal an Arabien, Indien vorbei bis nach China, das gegen Frankreich einen Krieg führt (1885). Dort wird Sylvestre schwer verwundet und auf dem Lazarettschiff Richtung Heimat verstirbt er. Zum Heiraten und zur Familiengründung kann es nicht mehr kommen. Dieser Islandfischer ist fortan tot.
    Noch eine weitere Islandfahrt muss Gaud abwarten und schmachten, erst dann, als sie durch den Tod ihres nicht reichen, sondern mittlerweile armen (Spielschulden) Vaters verarmt ist, nähern sich Yann und Gaud wieder an, so dass eine schnelle Hochzeit arrangiert wird.
    Für den nach Happy-End dürstenden Leser scheint nun alles gut: Endlich haben sich die Liebenden gefunden und finden zueinander – nach einem langen, kurvigem Weg. Der schöne Yann heiratet die schöne Gaud. Perfekt!
    Eine sehr aussagekräftige Szene: „Und das große Grab der Seeleute war ganz nahe, wogend, verschlingend brandete es gegen die Felsen mit immer gleich dumpfen Schlägen. Eines Nachts würde er dort hineingeraten...sie wussten es beide....Unwichtig! Für den Augenblick waren sie auf festem Boden, geschützt vor diesem unnützen Toben, das sich gegen sie selbst wandte. Doch in ihrer schlichten, dunklen Hütte, durch die der Wind ging, gaben sie sich einander hin nicht fragend nach Leben und Tod, berauscht, wundersam verführt von der ewigen Magie der Liebe“.
    Doch etwas ist gegen diese Liaison. Yanns eigentliche ewige Braut mischt sich ein. Da braut sich von Seeseite etwas zusammen. Ein Sturm kommt auf, so dass die Hochzeitskapelle kaum betreten werden kann. Stürmische Vorzeichen.
    Dies wird auch immer wieder typisch symbolisierend gestaltet. Gaud wartet später auf ihren Isländer-Mann auf einem vorschießenden Felsen mit einem riesigen Granitkreuz! Die zweite Tragödie beginnt.


    Die insgesamt 55 kleinen Kapitel, verteilt auf 5 Teile, zwingen den Leser immer wieder innezuhalten. Es gibt also viele Pausen, die einen ruhigen, sprachlich schönen Erzählstil unterbrechen. Zunächst sind wir inhaltlich bei den beiden Freunden und erleben die Dorsch-Angelei. Dann finden wir uns wieder, als Gaud für Sylvestres Mutter einen Brief aufsetzt, den sie Sylvestre schicken beabsichtigt. Eine Rückblende verdeutlicht Gauds Leben in Paris. Ihre Perspektive bestimmt dann weitere Kapitel, die das einfache, arme Leben in den Dörfern der Bretagne darstellen. Dann begleiten wir Sylvestre bis nach China in seinen Tod.
    Die Kapitel erzeugen einen entspannten Lesekomfort. Selbst die Dramatik des Sturms liest sich in dem Bewusstsein, nach dem Sturm folgt sicher, ganz sicher die Ruhe!
    Es ist weniger die Gestaltung der Geschichte und auch nicht die Geschichte selbst, die diesen Roman faszinierend lesen lassen. Das Thema des Romans sind nicht die tragischen Figuren und deren Verflechtungen und auch nicht die Darstellung von Fischfang und Armut an der Küste.
    Nein, das herausragende Thema des Roman ist das MEER selbst. Das Meer bestimmt in seiner Grenzenlosigkeit das Leben der Menschen, ihre Moral, gerade bei jenen, die in Verbundenheit mit ihm leben. „Eine Art heidnischer Devotion. Es ist die elementare Gewalt des Meeres, um die alles kreist, die diesen Roman zu einem Meisterstück gleichermaßen furioser wie kontemplativer Anschaulichkeit erhebt (…) Das Meer, Inkarnation größter Vitalität, ist lebensspendend und todbringend zugleich. Es entlädt sein gewaltiges Übermaß an Energie in fürchterlichen Stürmen und entfaltet dabei seine sowohl schöpferische wie apokalyptische Kraft. Es teilt die Finsternis und erschafft eine neue Welt, doch es übergibt sie 'totgeboren': die Sonne scheint auf sie hernieder 'wie ein toter Stern'. Der Tod, das universelle Schicksal, lastet auf ihr“, so lesen wir im Nachwort. Dem ist nichts hinzuzufügen.


    https://www.bretagne-tip.de/in…cherei-paimpol-island.htm


    "Wie die Luft gehört die See als Geburtsrecht allen Menschen.“
    (Thomas Jefferson 1743 - 1826)