„Geschichte ist der Umgang mit Größe und Dauer. Sie läßt uns über die Zeit erhaben sein.“
Sten Nadolny 'Die Entdeckung der Langsamkeit'
Eine Vorstellung zu schreiben über einen Roman, der sich längst zum 1,8 Millionen Mal verkauften Klassiker entwickeln konnte, preisgekrönt ist, zwanzigfach übersetzt wurde und so vielen Lesern bekannt ist, aber bisher hier im Forum noch nicht auftauchte, ist eine besondere Aufgabe. Vermutlich gab es in einem Vorgängermodell dieses Forums einen wohlfeilen thread über diesen Entdecker-Abenteuer-Klassiker!? Hier taucht er bisher nicht auf, und deshalb versuche / empfehle ich einen Cocktail.
Nur kurz ist auf den erzählten Stoff einzugehen, nur so kurz, dass sich alle, die den Roman wie ich vor etwa 30 Jahren gelesen haben, wieder ein wenig erinnern, doch auch so lang, dass dieser Roman lecker wird für die Noch-nicht-LeserInnen. Vielleicht finden beide Annäherungen ein bisschen 'Sekundenglück'!
In drei Teilen widmet sich der Roman des Lebens von John Franklin, der 1786 geboren und 1847 in Kanada den Tod fand. John Franklin war einer der bedeutendsten britischen Polarforscher. Vom Midshipman dient er sich in der Royal Navy bis zum Konteradmiral hoch. Der Roman beschreibt Franklins Jugend, im 2. Teil das Erlernen seines Berufes und endet im 3. Teil mit Franklins Lebensaufgabe – der Suche nach der Nordwestpassage im hohen Norden Kanadas. Seine letzte Unternehmung – die Franklin-Expedition – endet tragisch mit seinem Tod. Davor war er Gouverneur von Van Diemen's Land, dem späteren Tasmanien.
Für die Freunde des Age of Sail: Mit 15 segelt John F. mit der Investigation zum Kap der guten Hoffnung. Dann weiter zur Terra Australis. Er entdeckt als Navigator, dass er Entdecker werden will. Im Krieg gegen Napoleons Frankreich traumatisiert ihn die Schlacht vor Kopenhagen so sehr, dass er einen dänischen Matrosen mit bloßen Händen erwürgt, um an Nelsons Flanke auf der Bellerophon die Schlacht von Trafalgar hautnah zu erleiden. (Auch den Nelson Kult kennt der Autor Nadolny! „Er schien ein Mann voller Liebe zu sein – Liebe zum Ruhm und zu seiner eigenen Sorte. Und so gab es bald niemanden mehr, der nicht von Nelsons Sorte sein wollte“ (S.133) „Nie würde er zu diesem Bund von Männern gehören, die bereit waren, einander alles zu glauben, sogar den Mut, bis zu Sieg. Nur nicht aufs Deck kotzen, dachte er...“(S.136). Band of brothers! Später sehen andere in Franklin auch einen Nelson (s.S.240)).
Jedoch wird er schwer verwundet, als die Briten New Orleans einnehmen. Hierbei überlebt er einen Kopfschuss, der in die Stirn eindringt, aber am Schädelknochen vorbei herum ums Ohr und hinten wieder austritt. Eine solche Verwundung hat die literarische und auch fiktive Welt wohl kaum bisher vorgestellt.
Wer eine genauere Inhaltsangabe benötigt, um sich entscheiden zu wollen, diesen genialen Roman zu kaufen, um ihn zu lesen, der kann sich seine Entscheidungsschüchternheit nehmen lassen von https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Entdeckung_der_Langsamkeit. Dort steht vieles, was hier nicht auftauchen braucht und soll.
Am Ende des zweiten Teils gibt es eine Hommage an C.S. Forester, in der Mr. Gérad eine Fast-Affäre mit Lady Barbara Wellesley auf Hornblowers Lydia nachgesagt wird. Fiktion in der Fiktion.
Mr. Nadolny hat gut recherchiert. HähmHähmm!
Ein großes Faszinosum dieses Erfolgsromans ist die zunächst nicht offensichtliche Behinderung, aber titelprägende Lebenssituation des Protagonisten John Franklin. Er ist langsam, langsamer, am langsamsten. In der Kindheit behindert ihn das, in der Jugend macht es ihn lächerlich, als junger Erwachsener ist es für Gleichaltrige schwer auszuhalten, als Erwachsener verschafft er sich damit Respekt und als alter Konteradmiral ist er mit seiner Behinderung eine Legende.
Um dies textlich zu belegen, sind folgende Zitate aus dem Roman aufschlussreich: „Er würde die Schnelligkeit erforschen und lernen“ (S.25). „Plötzlich kam ihm ein Verdacht: Vielleicht ging sein Auge eine ganze Runde nach?“ (S.47) „Ein Schiff, vom Meer begrenzt, war lernbar“ (S.57). „Was seine Augen und Ohren nicht konnten, das tat sein Kopf in der Nacht. Geistiger Drill glich die Langsamkeit aus“ (S.58). „John betete sämtliche Segel von der Fock bis zum Kreuzroyal an die hundert Mal vor und zurück. Er sagte vom Vorroyalstag bis zu den Kreuzroyal–Parduhnen das stehende und von der Besanbaumschot bis zur Fockroyalbraß das laufende Gut auf. Er machte Klarschiff mit allen Stengen, allen Decks, Quartieren, Dienstgraden – nur er selbst war unentwirrbar unklar gekommen. Die Zuversicht war dahin“ (S.66). „An Land wollte sich John alle Frauen anschauen und versuchen, ihre Kleider auswendig zu lernen“ (S.77).
Für John Franklin funktioniert die Wahrnehmung der Zeit nicht. Seine Minuten haben nicht 60 Sekunden. Seine Zeitmaße stimmen nicht. Er ist nicht so getaktet wie seine Zeitgenossen und wie die Menschen auch heute. Er ist der Meister der Zeitlupe, des umgedrehten Fernrohrs, des innehaltenden Schrittmachers. Er ist ein Pausengott oder er ist ein Leidender an der Beschleunigung, die immer noch zunimmt, damals, heute, bis... Man hält ihn für krank, für imbezil, schwachsinnig, geistig behindert! Aber vielleicht sind ja auch die krank, die dies behaupten...?
Er nötigt seinen Mitmenschen seine Langsamkeit auf, entweder so oder anders eben dann nicht! Er kann nicht anders! Das ist eine ganz neue Idee, die es vor diesem Roman, erschienen erstmalig 1983, nicht gab. Seine Wahrnehmung ist einzelheitlich, nicht ganzheitlich. Er sieht eine Ausschnittswelt, bestehend aus tausenden von Puzzleteilen, die er erst verbinden muss, damit sich ihm Sinn erschließt. Das dauert lange. Das dauert eben John Franklins Pausen.
Er schafft es im Verlauf seines Lebens auch komplexere Systeme zu ergründen. Das dauert dann aber richtig lange. So ist er, der von Nadolny vorgestellte Held. Oft ist er handlungsunfähig, weil noch nicht bereit zu handeln, weil noch im Puzzlen der Wirklichkeitsshots. Hören und Sehen. So viel prasselt auf den John ein. Und dann spürt er vibrierend auch noch den nonverbalen Sound von Menschen, die anderes meinen als sie sagen. Das ist richtig schwierig.
Was ist? John Franklin in der fiktiven Darstellung von S. Nadolny ist ein Behinderter. Das ist nicht zu bewerten. Das ist zu lesen!
Immer gibt es viele Lesarten und Versteh-Arten und Interpretationen. Das ist auch gut so.
Bevor ich zwei vielleicht neue Aspekte in die Diskussion für dieses Werk formuliere, möchte ich die in über 30 Jahren aufgezeigten Perspektiven so darstellen.
Also ein Überblick über die Gattungs- und Rezeptionsgeschichte
- philosophischer Roman
- historischer Roman
- Abenteuerroman
- Schulfunkroman
- der Rhythmus dieser Prosa verändert die Geschwindigkeit unserer Wahrnehmung
- Langsamkeit ist ein menschenfreundliches Prinzip
- elegante Prosa, romantisch,
- Langsamkeit wird entmufft
- woher kommt die Spannung
- die Entdeckung der Langsamkeit ist ein geflügeltes Schlagwort
- Weniger ist mehr!
- Entschleunigung
- ein Buch eines Gentlemans über Gentlemans
Meine erste These ist wohlmöglich neu. (Ich habe jedenfalls keinen Hinweis finden können in der Rezeption dieses Romans, der einer solchen Fährte folgt.)
Die fiktive Figur John Franklin ist in der Gestaltung von Stan Nadolny aus heutigem Forschungsstand eine Person, die mehrere Kriterien einer Autismus-Spektrums-Störung (ASS) erfüllt. Vermutlich ist Franklin ein sogenannter Asperger-Autist (benannt nach dem Österreicher Hans Asperger, über den vor wenigen Tagen bekannt wurde, dass er rassistische Menschenversuche duldete und begünstigte!). Zu den für diesen Autismus typischen Verhaltensweisen kommen auch noch Eigenschaften des hochfunktionalem Autismus hinzu. Eine einzelheitliche Wahrnehmung, sensationelle Merkfähigkeit, Besonderheiten in der Sprache und natürlich die konsequente Langsamkeit!!! Unter diesem Mikroskop verkehren sich viele Besonderheiten von Franklin in eine Asperger-Autismus-Normalität. Die Autismus-Forschung steckte 1983 (Erstveröffentlichung des Romans) noch in den quasi Kinderschuhen. Diesen Ansatz wissenschaftlich zu verfolgen – dies würde eine spannende Promotionsaufgabe ergeben.
Meine zweite These bezieht sich auf Stan Nadolny selbst. Ich hatte 1990 die Gelegenheit den Autor in Kiel auf einer Lesung zunächst zu sehen und hören, später den Abend mit Abendessen und Geplauder bis in den frühen Morgen zu erleben. Er las seinerzeit aus dem Roman Selim oder die Gabe der Rede. Da der extrovertierte Buchhändler das Gespräch mit dem Autor lenkte, konnte ich in Ruhe beobachten, während ich meinen überbackenen Camembert aß. Ich bemerkte, dass dem eloquenten Buchhändler kaum ein Smalltalk gelang. Nadolny bat um viele Erklärungen. Er irritierte. Er ließ sich nicht auf Allgemeinplätze des Gesprächs ein, er brachte den Buchhändler dazu - zu essen - und weniger mit ihm zu plaudern. Es gab keine symmetrische Kommunikation, überhaupt nicht. Herr Nadolny war dann eher fragend interessiert, was meine zwei studierenden Freunde und mich bewegte. Gut zuhören – das tat er – und leise schmunzelnd fragen...
Ich erlebte, dass ich einen Abend mit John Franklin verbrachte, der gar nicht im Eis 1847 einen Schlaganfall erlebt haben konnte, sondern mit mir und anderen eine Kutterscholle mit Bratkartoffeln in 1990 in Kiel verkostete.
Natürlich ist es nichts NEUES, wenn ein Autor in seinem Erstling von Dingen erzählt, die auch dem Autor persönlich bekannt sind, vertraut sind. Und gute Romane sind immer wieder auch von Autoren geschrieben worden, die eine überdurchschnittliche Fähigkeit zur Selbstreflexion haben. Stan Nadolny ist ein solcher und sein Erstling lohnt ein Erstlesen und Wiederlesen der 'Entdeckung der Langsamkeit'
Es gibt noch viel mehr darüber zu lesen, wie dieser Roman eingeschätzt wurde und wird – alle sind sich einig – ein Meisterwerk! Dem ist zuzustimmen. In jedem Fall!