Band 1 - Das verschollene Schiff

  • Jack Sprat, der aß kein Fett


    1998 erschien bei Thomas Dunne Books in New York der Erstling des 77-jährigen Autors Wilder Perkins under dem Titel „Hoare and the Portsmouth atrocities“. 2002 erfolgte die deutsche Erstauflage „Das verschollene Schiff“ bei Goldmann/München in der ausgezeichneten Übersetzung von Matthias Jendis.
    Es handelt sich um einen Marine-Krimi, dessen Handlung am Vorabend der Seeschlacht von Trafalgar (1805) aufgeriggt ist. Obwohl der deutsche Titel 'Das verschollene Schiff' vielleicht suggeriert, dies sei ein marinehistorischer Neuling, so ist leider dieser Titel weitestgehend irreführend. Es sticht kein Schiff irgendeiner Navy in See; jedoch wird ein 74er vermisst. Das sind jedoch keine titelstiftende Motive, sondern nur kleine Details des gesamten Komplexes. (Hat hier der Lektor etwa nur die erste Seite gelesen?).
    Der Titel scheint ein Verkaufs- und Werbebluff zu sein. Ob er funktionierte, wohl eher nicht, wir lesen keinen Bestsellerroman.
    Dennoch hat die erzählte, fiktionale Story durchaus Qualität und wartet mit vielem Neuen auf. Ausgehend vom korrekt übersetzten Titel 'Hoare and the Portsmouth atrocities' kommen wir auf ganz andere Verknüpfungen: Hoare und die Gräueltaten / Abscheulichkeiten / Schreckenstaten von Portsmouth. Ja, das trifft dann den Inhalt des Romans deutlich und präzise. Zudem ist der sprachliche Ausdruck in jedem Fall besonders – besonders markig an verschiedenen Stellen.
    Im Folgenden sollen wesentliche Aspekte in den Fokus rücken: Der Held, die Story, der Erzählstil in Kombination mit dem speziellen sprachlichen Ausdruck und allgemeine Besonderheiten.
    Der Held heißt Bartholomew Hoare und ist Leutnant der Royal Navy. Über zwei Dinge machen sich nur Menschen lustig, die Hoare (noch) nicht kennen. Über seinen komischen Nachnamen und seine Sprechbehinderung. Sein Nachname (auch fälschlich ausgesprochen 'Whore') ist vermutlich deshalb vom Autor so ungewöhnlich ausgewählt worden, weil es eine inhaltliche Entsprechung andeutet: Das Hoare-Kalkül wurde 1969 veröffentlicht und ist ein formales System, das die Korrektheit von Programmen nachweist, indem es eine Menge von logischen Regeln liefert, die die Programme verifizieren. Für einen Sonderbeauftragten des Hafenadmirals von Portsmouth sind diese Eigenschaften als Ermittler tatsächlich Programm. Hoares Sprechbehinderung besteht darin, dass er nur kurzzeitig im Flüsterton sprechen kann, da ihm in dem Seegefecht Schlacht des glorreichen 1. Juli der Kehlkopf durch eine Musketenkugel verletzt wurde. Diese Behinderung des Laut-Sprechens verhagelte Hoare bisher eine typische Marinekarriere mit der Beförderung zum Kapitänleutnant. Dieses ungestillte Bedürfnis ist Motor aller Handlungen des Helden. Leitmotivisch sprießt bei allen kleinen Erfolgen auf, dass sie vielleicht doch zu einer Beförderung führen könnten.
    Wir begegnen hier einen völlig neuen Typ marineaffinen Held. Er kann nur leise oder mit Schiefertafeln (schreibend) oder mit Trillerpfeife oder fingerpfeifend kommunizieren. Er ist also behindert, ein 'flüsterndes Frettchen'. Er ist präzise und genau beim Lösen von Gordischen Knoten oder Wuhlings. Er ist 43 Jahre alt und ein Topp-Seemann. Er ist ein Waffennarr und erfolgreicher Duellant (Einem arroganten und pomadigen 'Hummer' schießt er durch die Pobacke!). Er ist nervenstark und mit seinem besonderen Schiff Regattasieger. Außerdem hat er die Lizenz zum Töten im 19. Jahrhundert in England. Ein bisschen Robin Hood, ganz viel Sherlock Holmes gemendelt mit 007. Besonders erfolgreich ist er aber vermutlich , weil „Er fühlte sich wie ein Webermeister, der versucht, die missglückte Arbeit eines Lehrlings aufzudröseln. Irgendwo in diesem Fall musste ein roter Faden zu finden sein – oder ein wiederholt auftretender Knoten“ (S.169). „Seine Gedanken wanden und krümmten sich hin und her wie ein Haufen ineinander verschlungener Regenwürmer, doch sie führten zu nichts“ (S.168). Hoare segelt eine getunte / aufgemotzte Pinasse mit einem Schafschenkel-Großsegel, dessen Fußliek er vom Halse bis zum Schothorn an eine Spiere gelascht hat und dessen Topp so hoch hinaus reicht wie ihre Maststenge, sowie einem Gaffel-Vorstagsegel. Außerdem hat die Pinasse ein bleibeschwertes Kielschwert. Wirklich außergewöhnlich ist jedoch, dass dieses 'Rennschwein' 5-X unterschiedliche Namen tragen kann, die der Skipper nach Gutdünken am Heck befestigt. Wie beim sprechenden Namen 'Hoare' finden wir auch hier wieder Bezüge zur Story bzw. zu Eigenschaften des Helden. Unimagible– Unvorstellbar / Undankbar / Unüberschaubar; Inconceirable– Undenkbar / Unvorstellbar / Unfassbar; Unspeakable– Unsäglich, Unaussprechbar (Sprechbehinderung – sic!), Unbeschreiblich.
    Die Story will nur angedeutet sein, die Lust, das Buch zu lesen, soll angeregt werden, unbedingt. Hier dann eine Skizzierung: Ein Krimi im Marine-Milieu. Kriegsschiffe explodieren, merkwürdige Fässer mit Zahnrädern und mechanischen Elementen werden angespült, eine Arztgattin schießt mit einer Zwille einen Mordbruder nieder, ein rollstuhlfahrender Arzt ist zugleich Erfinder, ein Ermittler ist gewieft und charmant und bereit zu töten. Wenigstens 4 Morde und verschiedene Motive und eine Lösung. Es gibt sogar ein HappyEnd und einen Heiratsantrag (amerikanischer Autor ;-). Mehr wird nicht verraten. Klasse Krimi – Story – Milieutreue.
    Zum Erzählstil und zum sprachlichen Ausdruck: Wir finden ausschließlich auktoriales und personales Erzählen vor. Ein allwissender Erzähler geleitet uns, die Figuren sprechen und beides baut die Struktur und Spannung auf. Abrupte Ereignisse sind oft nicht angekündigt und überfallen die Leser und Figuren. Plötzlich wird der Held aus dem Off niedergeschlagen oder aus dem Nichts explodiert eine Fregatte. Das sind unerwartete erzählerische Tsunamis. So plötzlich hereinbrechend, ohne Vorwarnung. Die Sprache der Figuren ist rotzig-frech, respektlos, ironisierend, höhnisch oder slang-verhaftet (Rotwelsch). Das sind frische, witzige Dialoge und machmal unfassbare Vergleiche. Mehr als Schmunzeln ist möglich. Eine Kostprobe: „Katharina Hay war eine üppige, blonde Holländerin. Wie sie in ihrem geschmackvollen Trauerflor vor ihm stand, erinnerte ihn ihre vollen Rundungen an die Linien der Oranienbloom, des Zweideckers, vor dem er einst Hals über Kopf die Flucht ergriffen hatte“ (S.139). Nach der Explosion einer Fregatte im Hafenbecken befindet sich der Held in unmittelbarer Nähe der herabfallenden Reste des Schiffes und der Besatzung: „Er langte hinab in die von Trümmern übersäte See und ergriff eine herausragende Hand. Die Hand hing an einem Arm, der Arm an gar nichts. Er ließ den Arm fallen“ (S.151). Frische Formulierungen, lustige Übertreibungen und bizarre Kommentare auch zur Darstellung der Royal Navy und der britischen Gesellschaft um 1805. Ehebrüche, bekannte und gedeckelte und teerverschmierte Karriereleitern. Und wir lernen eine junge Frau kennen, die Jane Austen heißt. Die wollten doch viele Männer schon immer einmal kennenlernen, oder?!
    'Jack Sprat, der aß kein Fett' ist die erste Zeile eines alten bekannten englischen Kinderreimes. In der Geschichte des Romans kann der böse französische Verschwörer und Spion diesen Kinderreim nicht fortsetzen und macht sich dadurch dem ermittelnden Marinekommissar verdächtig. Hier die deutsche Übersetzung des Kinderreimes:


    Jack Sprat
    Jack Sprat, der aß kein Fett.
    Seine Frau nichts Mageres,
    so dass sie hin und hergerissen,
    den Teller sauber leckten.


    Hier braucht kein Teller sauber geleckt werden – hier darf ein sehr feines Buch genussvoll gelesen werden. Es schmeckt gut! Genießt es!



    https://www.amazon.de/Das-vers…s=Das+verschollene+Schiff

    "Wie die Luft gehört die See als Geburtsrecht allen Menschen.“
    (Thomas Jefferson 1743 - 1826)

    Einmal editiert, zuletzt von 1.Lord ()

  • Da kann ich dir nur Zustimmen.
    Wilder Perkins war mit O'Brian bwei mir Einstiegsdroge.
    Ich finde ihn einfach klasse, diesen leicht granteligen Leutnant, der doch so schwioerige Fälle klärt.
    Leider verstarb Wilder Perkins zu früh, so dass wir nur 3 Bücher von Hoare lesen können.


    aga

    Gentlemen, when the enemy is committed to a mistake, we must not interrupt him too soon.

    Adm. Horatio Nelson

  • @oeli Danke für das Lob und super, dass du auch gleich den 2. Band gekauft hast.
    Meine Rezension für den 2. Band ist auch schon seit letzter Woche fertig - den brauche ich für dich dann ja nicht mehr justieren. ^^
    Der 2. und 3. Band sind auch genauso gut wie der Opener!!! :ruder:
    Alle 3 Bände bilden auch dann eine Einheit, obwohl jeder einzelne Band für sich auch Sinn macht.

    "Wie die Luft gehört die See als Geburtsrecht allen Menschen.“
    (Thomas Jefferson 1743 - 1826)

  • Das wirst du auf gar keinen Fall bereuen!
    Die drei Bände sind wirklich ein feiner Schatz, ihn zu heben ein Lektüreerlebnis.

    "Wie die Luft gehört die See als Geburtsrecht allen Menschen.“
    (Thomas Jefferson 1743 - 1826)

  • @1.Lord
    Muss mich korrigieren, habe mir nun alle 3 Bände bestellt. ;)

    brav!
    :D
    Die reissen ja auch keine allzu grossen Löcher ins Säckel.


    Aga

    Gentlemen, when the enemy is committed to a mistake, we must not interrupt him too soon.

    Adm. Horatio Nelson

  • Die ersten beiden Bände hatte ich hier jahrelang herum liegen und sie nie gelesen. Um den letzten Jahreswechsel herum dann doch und den 3. Band musste ich mir gebraucht dann auch gleich besorgen.

    Schande über mein Haupt, dass ich die jahrelang nicht gelesen habe!


    Die Bücher spielen zwar recht wenig zur See, und eigentlich sind sie auch Krimis, und tatsächlich gehören sie alle 3 zusammen (es werden zwar jeweils eigenen Geschichten erzählt, aber der Metaplot zieht sich über alle 3 Bände und wird im dritten auch beendet), aber mir gefielen sie sehr gut. Zwar werden manchmal für meinen Geschmack Szenen zu schnell abgehandelt, aber manchmal das augenzwinkernde, der Krimi-Plot und die Figuren gefielen mir sehr gut und die Hauptfigur mit dem kaum sprachfähigen Hoare ist mal etwas anderes als Hauptfigur.

    Dazu sind so kleine Anspielungen drin versteckt, es werden Hornblower, Aubrey und Bolitho immerhin erwähnt, bzw. Hornblower bekommt auch einen ganz, ganz kurzen Cameo-Auftritt (den aber erst im 3. Band, meine ich).

  • Nach wie vor, Wilder Perkins gehört mit seinem Leutnant Hoare zu meinen Lieblingen der Romane im Marinemillieu. Ich besitze sie alle drei und bin beim durchstöbern der älteren Threads darüber gestolpert das Ich in meiner Bibliothek Bücher habe, die Ich schon länger nicht mehr gelesen habe. Nach dem heute vorgestellten Buch Lumberjills, a Forgotten Britain Army, einem Interessanten Fachbuch, werde Ich den Wilder Perkins aus dem Regal holen.

    "Wir können den Wind nicht ändern,aber die Segel anders setzen" "Aristoteles"

  • wilder Perkins kann man immer lesen.


    aga

    Gentlemen, when the enemy is committed to a mistake, we must not interrupt him too soon.

    Adm. Horatio Nelson

  • Jessica Read

    Hat den Titel des Themas von „Wilder Perkins - Das verschollene Schiff“ zu „Band 1 - Das verschollene Schiff“ geändert.